Göttingen feiert 75 Jahre Filmstadt mit einem vielfältigen Programm – unter anderem auch mit Stadtführungen zu Drehorten und spannenden Anekdoten. Am 31. August 1948 eröffnete hier nämlich das damals modernste Filmstudio Deutschlands und bis in die 6oer-Jahre sind im Filmatelier Göttingen über 100 Spielfilme entstanden.
Wenn man sich mit der Filmgeschichte genauer auseinandersetzen will, kommt man an Sven Schreivogel nicht vorbei. Der Göttinger Journalist und Regisseur ist nämlich nicht nur Heinz-Erhardt-Fan, sondern hat sich als Kenner der Göttinger Filmvergangenheit einen Namen gemacht. Mehr noch: Sven Schreivogel brennt für seine Filmstadt und möchte sie wieder als Drehort für Filme und Fernsehserien aufbauen und vermarkten. „Dass der Tatort in der Stadt, die Wissen schafft, gedreht wird, ist ein Geschenk des Himmels“, sagt er, „so ein Dreh, der auch noch zur Primetime gesendet wird, ist schon ein Ritterschlag.“
Svens Begeisterung für die Filmstadt Göttingen hat ihren Ursprung bereits in seiner Jugendzeit. 1972 im Stadtteil Grone geboren, wuchs er in unmittelbarer Nähe der ehemaligen Filmstudios auf. Er erinnert sich noch ganz genau an den 20. Februar 1984. An jenem Montag zeigte das ZDF um 20.15 Uhr die Heinz-Erhardt-Komödie „Natürlich die Autofahrer“. „Am folgenden Tag war der Film bei uns in der Lutherschule das Gesprächsthema Nummer eins. Göttingen war im Fernsehen zu sehen gewesen. Und das nicht nur in irgendwelchen Studioaufnahmen. Nein, die Stadt selbst diente als Kulisse.
Der Theaterplatz, die Kreuzung am Weender Tor oder auch ein entstehendes Wohngebiet im Osten der Stadt waren in dem erfolgreichen Streifen zu sehen.“ Von da an hatte es ihn gepackt. Schul-Projekttagen am Max-Planck-Gymnasium (MPG), die sein Lehrer Michael Petzel, Autor von “Filmstadt Göttingen” initiierte seinerzeit initiierte, folgte eine Film-AG. Sven Schreivogel ließ sich am Deutschen Theater (DT) zum Schauspieler ausbilden.
1993 gründete er mit der „Filmwerkstatt Göttingen“ einen Verein zur Vernetzung von Filmschaffenden. 1996/97 drehte er den Spielfilm „Der Seelenspiegel“ in Göttingen und Umgebung. 1999 erhielt er vom NDR eine Drehbuchförderung für die Dokumentation „Hollywood an der Leine – Die Geschichte der Filmstadt Göttingen“. Dieses Jahr organisiert er mit dem Filmbüro Göttingen das Jubiläumsprogramm und lässt den alten Glanz wieder auferstehen.
Hans Abich und Rolf Thiele gründeten 1946 mit der Filmaufbau GmbH Göttingen das seinerzeit modernste Film-Atelier Deutschlands. Beide wollten einen filmischen Gegenpol zu den Propaganda- und Durchhaltefilmen der Universum Film AG (UFA) setzen. Allerdings mussten Abich und Thiele das firmeneigene Atelier bald verkaufen, nachdem ihr erster Film gefloppt war. Die Hamburger Vereinsbank übernahm den modernen Studiokomplex, gründete die Filmatelier Göttingen GmbH.
Auf dem ehemaligen Flugplatzgelände war nach den Entwürfen des Architekten Walter Haag, eine Art „Klein Hollywood“ entstanden: drei Ateliers mit einer Gesamtfläche von 1500 Quadratmetern. Nahezu pausenlos wurden hier deutsche Kino-Klassiker wie „Liebe 47“, Frauenarzt Dr. Prätorius“, „Der tolle Bomberg“ oder „Rosen für den Staatsanwalt“ produziert.
Die damaligen Stars der deutschen Kino-Szene wie Willy Fritsch, Theo Lingen, Hilde Krahl, Curt Goetz, Dieter Borsche, Ruth Leuwerik oder Walter Giller gaben sich quasi die Klinke der Studiotüren in die Hand. Allen voran Starkomiker Heinz Erhardt. Er drehte zwischen 1956 und 1960 allein acht erfolgreiche Spielfilme in der Stadt. Darunter auch die heute noch beliebten Streifen „Natürlich die Autofahrer“, „Drillinge an Bord“, „Witwer mit fünf Töchtern“ oder „Der müde Theodor“.
Sven Schreivogel ist ein Füllhorn an Wissen über diese Zeit, hat zahllose Daten, Geschichten und Anekdoten parat – ein lebendiges Lexikon der Göttinger Film-Szene. Für den Antikriegsfilm „Hunde wollt ihr ewig leben“ aus dem Jahr 1959, die größte Göttinger Produktion, war die komplette Kulisse des Roten Platzes von Stalingrad auf dem Göttinger Studio-Areal aufgebaut worden. „Da wurde sogar scharf geschossen“, weiß er, „und der geniale Berliner Filmarchitekt Walter Haag, der inzwischen in Göttingen wohnte, ist für die Ausstattung des Klassikers mit dem Deutschen Filmpreis in Silber geehrt worden. Leider ist diese Auszeichnung abhandengekommen und wir suchen noch nach ihr.“ In Haags ehemaliger Unterkunft in Grone wurden allerdings andere cineastische Kostbarkeiten entdeckt. 30 bis 40 Kartons mit seinen Originalzeichnungen und Entwürfen zu diversen Dekorationen und Filmausstattungen. „Die gilt es jetzt zu digitalisieren, um sie der Nachwelt zu erhalten. Genauso wie die über 2.000 Abbildungen, die bereits gescannt worden sind, darunter Stand- und Werkfotos, Plakate und Werbung.
Sven kennt viele Geschichtchen rund um die Dreharbeiten in Göttingen. Am Kiessee filmte das Team um Regisseur Frank Wisbar die Anfangsszene von „Nacht fiel über Gotenhafen“ von 1959, wie er berichtet. Stundenlang hätten die Darsteller von Toten und Verwundeten des von der Roten Armee in der Ostsee versenkten Lazarett- und Truppentransportschiffs „Wilhelm Gustloff“ nachts im Wasser des Sees und angestrahlt von Suchscheinwerfern aushalten müssen, bis die Szenen im Kasten waren.
Oder die Sache mit Heinz Erhardt und Trude Herr bei der Produktion von „Drillinge an Bord“. Beide Protagonisten mussten extrem lange auf ihre Szene warten und überbrückten diese Zeit in der Atelierkantine. Dort sprachen sie, Erhardts Tagebuch zufolge, wohl so heftig dem Alkohol zu, dass sie am Ende ziemlich betrunken waren. „Gedreht wurde anschließend aber trotzdem“, sagt Sven Schreivogel lachend.
“Überhaupt, Heinz Erhardt“, erzählt Sven Schreivogel, „er ist das Gesicht der Göttinger Filmgeschichte. Kein anderer hat hier so viele Filme gedreht, wie er.“ Eine Alu-Dibond-Stele auf einem Metall-Sockel am Weender Tor erinnert seit 2003 an den 1979 verstorbenen Schauspieler.
Sie zeigt ihn in seiner Rolle als Polizeihauptwachtmeister Eberhard Dobermann in „Natürlich die Autofahrer“, wie er an ebendieser Kreuzung im Film den Verkehr regelt.
„Erhardt war brillant in der Beobachtung, sein Humor war zeitlos, wie sein filmisches Schaffen von Mitte der 50er-Jahre bis in die Siebziger beweist“, sagt er. „Seine Filme sind heute noch beliebt und manche seiner Sprüche sind inzwischen zum geflügelten Wort geworden.“ So lustig seine Filmfiguren auch waren, privat war der Schauspieler eher ein introvertierter, ernster Mensch. „Er war ein hervorragender Musiker und wollte eigentlich Pianist werden“, weiß Sven Schreivogel und zieht Parallelen zu Helge Schneider. Auch ein brillanter Musiker, der in einem anderen Gewerk berühmt geworden ist.
Sven Schreivogel verfügt über zahllose Kontakte zur Film- und Fernsehszene und ist ein Meister im Netzwerken. „Natürlich geht so etwas nicht im Alleingang“, sagt er. Seit August 2019 hat er mit der „Initiative Drehort Göttingen“ ein namhaftes Kreativteam zusammengebracht.
Dabei sind unter anderen Patrick Caputo, Regisseur der Telenovela „Rote Rosen“, Schauspielerin Natalie O’Hara („Der Bergdoktor“), TV-Journalist Ekkehard Sieker („Die Anstalt“), Produzentin Silke Winter (Talpa Germany, Berlin) und einige Göttinger Medienschaffende.
Aufgrund seiner geografischen und topografischen Lage ist die Universitätsstadt für Sven der ideale Drehort. „Göttingen ist nicht nur malerisch, sondern so viel mehr als das niedliche Fachwerkstädtchen“, sagt der Filmkenner. „Ich möchte die Stadt als Drehort, Kulisse und Handlungsort nachhaltig etablieren.“ Für den überzeugten Göttinger geht es darum, Stoffe mit Tiefe zu entwickeln, die zwar göttingenspezifisch, aber von überregionaler Bedeutung sind.
Regelmäßig trifft sich die elfköpfige Gruppe zu kreativen Meetings, die unter anderem das Zusammentragen von möglichen Film- und Serienstoffen, die für Göttingen typisch und geeignet sind, zum Inhalt haben. Auf ihren Touren durch die Stadt besucht die Gruppe ehemalige und zukünftige potenzielle Dreh- und Handlungsorte in der Stadt. Ein Zeichen dafür, dass die Initiative auf dem richtigen Weg ist: Anfang September dieses Jahres haben die “German Film Commissions” Göttingen als Filmlocation des Monats ausgezeichnet. Einen fixen Termin für das kommende Jahr hat Sven auch noch. „Am 21. August 2023 werden wir in Göttingen eine Ausstellung mit zahlreichen Exponaten aus der Göttinger Filmgeschichte eröffnen, denn dann feiern wir 75 Jahre Filmstadt Göttingen.”
Text: Christoph Mischke, Florian Heinz
Redaktion: Florian Heinz
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