Gutingi war ein Dorf, benannt nach dem Bach Gote. Das Wort Gutingi bedeutete so etwas wie, die Leute, die an der Gote leben. Und dieses Dorf existierte schon sehr lange vor der Gründung des Marktfleckens namens Gotingen, dessen Einwohner*innen Anfang des 1208 erstmals urkundlich als Burgenses erwähnt wurden. Burgenses ist hier wichtig, denn es bedeutet, dass die Menschen in Gotingen Bürger waren, also als Bewohner*innen einer Siedlung mit Stadtrechten bestimmte rechtliche Freiheiten genossen, die einfache Bäuerinnen und Bauern in einem Dorf wie Gutingi eben nicht besaß.
Neben diesem urkundlich 953 zum ersten Mal erwähnten Gutingi entstand Gotingen. Zunächst wohl als Kaufmannsiedlung an der nahegelegenen Furt über die Leine, dann weiter entlang einer Straße, deren Ausrichtung der heutigen Weender Straße entsprach, und die von Geismar nach Weende führte. Dort lagen sicher bereits einige Höfe, aber ab der Mitte des 12. Jahrhunderts konnten die Bewohner Gutingis zusehen, wie auf dem Gelände, das von ihrem Hügel aus, etwa 13 Meter tiefer zur Leine abfiel, drei große Kirchen und viele Neubauten errichtet wurden.
Diese neuen Häuser dürften oft noch ihren eigenen geähnelt haben. Sie waren in der Fläche acht mal zehn Meter groß, ein- bis zweigeschossig und selbst im Überflutungsbereich der Leine noch über ca. 50 cm tiefen Gruben errichtet. Hier und da dürften aber auch bereits Steinhäuser errichtet worden sein.
Am wichtigsten war für die Menschen in Gutingi jedoch vermutlich der sich plötzlich auftürmende Wall direkt vor ihrer Nase. Davor lag ein tiefer Graben und später wurde auch noch eine Mauer auf diesem Wall errichtet. Der Weg, den sie seit Generationen zur Leine hinabgingen, führte jetzt durch ein bewachtes Stadttor, hinter dem lauter Leute lebten, die sie einige Jahre zuvor vermutlich noch als benachbarte Bauern empfunden hatten, die sich jetzt jedoch mehr und mehr als bessergestellte, freie Bürger sahen.
Doch warum entstand dieser Marktflecken mit seinen Neubauten, Stadtmauern und Kirchen direkt neben einem bestehenden Dorf, in dem es ja bereits eine Kirche und sicher auch ein paar Händler und Handwerker gab?
So ganz einfach ist das Jahrhunderte später nicht zu beantworten. Es hilft jedoch, sich zu verdeutlichen, dass unser Verständnis von Stadtplanung und Raumentwicklung im frühen 13 Jahrhundert nicht existierte. Es gab ja nicht einmal so etwas wie einen Staat. Herrschaft und damit Planungshoheit ging damals von zwei gesellschaftlichen Gruppen aus. Die eine waren die grundbesitzenden, adligen Familien, die miteinander in einem komplexen Geflecht von Macht, Bündnissen und Rivalitäten, die immer wieder auch in Gewalt mündete, verbunden waren. Theoretisch gehörten sie alle zum Heiligen Römischen Reich, das die Dynastie der Ottonen im 10. Jahrhundert begründet hatten. Praktisch waren die Reichsgüter jedoch vor allem im Zusammenspiel mit den Besitzungen der jeweiligen Adelsfamilie von Interesse, die gerade die Kaiser stellte.
Die andere Gruppe bildete die Kirche, der ebenfalls sehr viel Land gehörte und deren einzelne Akteur*innen zwar alle dem Papst unterstellt waren, aber trotzdem keineswegs immer an einem Strang zogen. Endgültig kompliziert wurde es, wenn sich Kirchenamt und familiäre Interessen in einzelnen Personen vermischten.
Ganz ähnlich wie bei Immobilienfonds der Gegenwart war nämlich Grundbesitz in feudalen Zeiten nicht auf ein einzelnes, zusammenhängendes Gebiet begrenzt. Man besaß hier einen Acker, dort einen Wald und erhielt Abgaben von einzelnen Landgütern und Höfen, die in völlig verschiedenen Regionen liegen konnten. Manchmal waren auch mehrere Parteien an einzelnen Wirtschaftseinheiten – und als solche können wir uns bewirtschafteten Landbesitz im Mittelalter vorstellen – beteiligt.
Um genau zu verstehen, was im Mittelalter im Leinetal rund um die Entwicklung der Stadt Göttingen vor sich ging, müsste man sich deshalb die verschiedenen Adelsfamilien, die Reichsbesitzungen und auf kirchlicher Seite Klöster und Stifte anschauen, die vor Ort vertreten waren. Wenn ihr neugierig seid, das Ganze ist in Band 1 der bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienenen Chronik „Göttingen Geschichte einer Universitätsstadt“ in einer Reihe wissenschaftlicher Artikel beschrieben.
Sollten wir versuchen, es in aller Kürze zu beschreiben, wäre es wohl nicht falsch, zu sagen, dass die Welfen, sich zu jener Zeit im Leinetal mehr und mehr durchzusetzen begannen. In der zweiten Hälfte des 12. Jahrhundert arbeiteten diese mittelalterlichen Welfen unter ihrem Anführer, Heinrich dem Löwen, Herzog von Sachsen, jedenfalls energisch daran, sich als eines der mächtigsten Adelshäuser des Heiligen Römischen Reichs zu behaupten. Zu ihren Projekten in dieser Richtung gehörte die Entwicklung des Marktfleckens Gotingen. Nicht zuletzt ließ sich mit einer solchen Stadt viel Geld verdienen. Die Aktivitäten Heinrich des Löwen waren insofern angewandte Wirtschaftsförderung, die genauso einzuordnen wäre wie später die Gründung der Universität, im nach dem 30-jährigen Krieg verarmten Göttingen.
Ab 1150 grenzte die wachsende Stadtbefestigung das alte Dorf Gutingi jedenfalls aus, weil das Land, auf dem seine Höfe standen, zu großen Teilen nicht den Welfen gehörte. Gutingis erste urkundliche Erwähnung in einer Schenkungsurkunde verweist beispielsweise darauf, dass dort einzelne Güter zum Reich gehörten. Auch der Name der Kirche, die für die Gemeinde der Menschen in Gutingi und anderer, vor den Stadtmauern lebender Anwohner zuständig war, gibt einen Hinweis. Er deutet auf kirchlichen Besitz, um genauer zu sein, auf das Erzbistum von Mainz.
Wie die Albanikirche – die älteste Kirche Göttingens – im 8., 9. oder 10. Jahrhundert aussah, lässt sich heute nicht mehr ganz genau sagen. Sie ist aber wohl die älteste Kirche Göttingens. Sicher ist jedoch, dass die Kirche zu Beginn des 11. Jahrhunderts, dem Heiligen Albanus geweiht wurde. Und dieser Albanus war der Priester, Missionar und Märtyrer Alban von Mainz, der im 4. Jahrhundert lebte, und im dortigen Erzbistum noch immer verehrt wurde. Zu dieser Weihe wäre es jedoch wohl nicht gekommen, wenn nicht das Erzbistum oder ihm verbundene Adlige in Gutingi über eine nicht unbeträchtliche Macht verfügt hätten.
Um wieder auf die Frage nach dem „Wieso neben Gutingi?“ zurückzukommen: Die Gründung Gotingens war für die Welfen vor allem eine groß angelegte, wirtschaftliche Investition. Und an der konnten sie, selbst wenn sie es gewollt hätten, eben nicht einfach so die Untertanen anderer Adelshäuser oder der Kirche beteiligen, denn „Stadtluft machte eben frei“, wer als Bürger*in lebte, hatte Freiheiten, von denen Bauern oft nur träumen konnte. Also ließen die Welfen die Stadtmauer so errichten, dass die Menschen von Gutingi draußen blieben.
Dass die Befestigung und damit die Stadt dann in Richtung Leine wuchsen – immerhin ein Überschwemmungsgebiet –, dürfte praktische Gründe gehabt haben. Gutingi lag am Hang über der Leine. Fernsicht, kein Vollaufen der eigenen Wohnung bei Hochwasser. Soweit eine gute Sache. Doch für eine angemessene Stadtbefestigung war zu jener Zeit ein Wassergraben nun einmal ein absolutes „Must-have“ – und so ein Graben war eben leichter zu bewässern, wenn man tiefer ins Tal hinein und näher an die Leine heran baute.
Trotzdem existierte sicher nicht so etwas wie eine Staatsgrenze zwischen dem Marktflecken Gotingen und Gutingi. Wer damals vom „Alten Dorf“ sprach, dürfte wohl einfach das Alte Dorf in der Nähe von der Kaufmannssiedlung Gotingen an der Leinefurt gemeint haben. Schließlich ist ja auch der Bezug zur Gote noch immer gut erkennbar, die in die Stadt hinein auf die Leine zufloss und dann über den Leinekanal auch in die Anlage der Stadt integriert wurde.
Vermutlich sahen die aufstrebenden Bürger in den Bewohnern Gutingis eher so etwas wie die etwas ärmliche Verwandtschaft, die zu allem Überfluss auch weniger Freiheiten hatte, als man selbst. Eine nachvollziehbare Perspektive, denn schon im 13. Jahrhundert ist nachweisbar, dass Gotingens Bürgerschaft eine solche Selbstständigkeit und Bedeutung erlangt hatte, dass die mächtigen Adelsparteien in der Region begannen, um die Gunst des Rates der Stadt zu werben. Göttingen war zwar keine Reichsstadt, was eine klare Autonomie gegenüber dem landesherrschaftlichen Adel mit sich gebracht hätte, aber die Welfen hatten dem Rat der Stadt bereits weniger zu sagen, als ihnen vermutlich lieb war.
Das zeigt sich dann auch gegen Ende des 13. Jahrhunderts, als Herzog Albrecht, der welfische Herrscher über Südniedersachsen, von seiner Burg in der Stadt aus den Versuch unternahm, vor den Stadtmauern ein von ihm kontrolliertes Gegengewicht zur wachsenden Macht der Bürger Gotingens zu gründen: die Neustadt. Die gibt es zwar heute noch, aber der Versuch ging schief. In der Neustadt blieb es ähnlich öde, wie es zuvor in Gutingi geworden war.
In der Folge wurde das Alte Dorf – etwa die Gegend rund um die Albani Kirche und die Lange Geismarstraße hinunter bis zum heutigen Kaufland – schließlich zu einem Teil Göttingens, den wir heute auf jeden Fall ebenso wie die Neustadt als Teil des Stadtzentrums beschreiben würden.
Nicht überraschend leben dort, wo die Albanikirche auf ihrem Hügel über dem Leinetal aufragte, schon lange Menschen, bevor Heinrich der Löwe überhaupt über Gotingen nachzudenken begann.
Archäologen fanden bei Ausgrabungen zwischen der heutigen Hospital- und Langen Geismarstraße nämlich sechs Grubenhäuser, Pfostensetzungen und einen Ofen, die sie teilweise bis ins 7. Jahrhundert zurückdatierten. Was da auf dem Wochenmarkt und unter dem heutigen Kaufland-Gelände ausgegraben wurde, deutet auf eine Siedlung hin, in der unter anderem Knochenschnitzer – diese stellten kleine Gebrauchsgegenstände wie Geschirr oder Hygieneartikel aus Knochen her – und Leineweber ihrem Handwerk nachgingen, und Metall- und Milchverarbeitung stattfanden. Die Menschen lebten hier wie noch Jahrhunderte später in Grubenhäusern, die bis zu einem Meter tief im Boden lagen und nach oben hin von Fachwerk umgeben waren. Sie bauten Emmer und Dinkel auf den fruchtbaren Lössböden rings um ihr Dorf an und schotterten im Laufe der Jahre ihre Wege mit Basaltsteinen vom 20 km entfernten Hohen Hagen.
Wenn ihr euch jetzt fragt, was das für Menschen waren, die dort an der Gote lebten, ist auch diese Antwort nicht ganz einfach. Die fruchtbaren Böden des Leinetals waren schon sehr, sehr lange besiedelt worden. In der Völkerwanderungszeit liefen die Dinge jedoch für einige Jahrhunderte so sehr aus dem Ruder, dass weder Historiker noch Archäologen klare Erkenntnisse vorweisen können. Irgendwann stritten sich im Leinetal dann Sachsen, Franken und Thüringer um die Herrschaft. Ab dem Anfang des 8. Jahrhunderts dürftet man sich in Gutingi jedoch eindeutig als sächsisch betrachtet haben.
Also dann: Was war Gutingi? Ein sächsisches Dorf dessen Menschen von Mainz aus missioniert worden waren und das irgendwann von einer Neusiedlung namens Gotingen verschluckt wurde, die erst mal nur eine kleine Kaufmannsniederlassung an der Leinefurt war, bevor die Welfen ihre Macht einsetzten, um sie zur Stadt zu machen.
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