Ganz ehrlich: Während meiner Studienzeit spielte das Gänseliesel für mich keine Rolle. Man traf sich gelegentlich dort oder saß an warmen Sommertagen auf dem Brunnenrand. Aber welche Bedeutung die Figur für die Stadt hatte, war mir nicht bewusst. Das änderte sich ein paar Jahre später schlagartig, als ich die Leitung des Göttingen Tourismus übernahm. Von nun an war das Gänseliesel allgegenwärtig. Schon beim ersten Besuch in der Tourist-Information war es nicht zu übersehen.
Sein Konterfei schmückte Tassen, Handtücher, Teller, Gläser, Taschen, Postkarten, Aufkleber, Broschüren und vieles mehr. Daran hat sich auch bis heute nichts geändert. Und nicht nur Tourist*innen kaufen die Artikel, auch viele Einheimische, weil sie sich mit ihrer Stadt und ihrem inoffiziellen, aber doch offensichtlichen Wahrzeichen identifizieren. Grund genug, sich einmal näher mit der Geschichte des Gänseliesels und seiner Rolle in der Stadt zu beschäftigen.
1898 rief der Magistrat der Stadt Göttingen einen Wettbewerb zur Gestaltung des Brunnens auf dem zentralen Marktplatz ins Leben. Der Entwurf „Gänseliesel“ von dem Bildhauer Paul Nisse und dem Architekten Paul Stöckhardt landete in der Jurywertung zwar nur auf Platz 2, stieß aber bei der Bürgerschaft auf weit mehr Zustimmung als der erstplatzierte. Der Magistrat der Stadt entschied daraufhin, den Gänseliesel-Brunnen zu realisieren. Er wurde am 8. Juni 1901 sang- und klanglos aufgestellt.
Seit 1901 ist viel Zeit vergangen: Das Gänseliesel hat sich bis heute zur meistgeküssten Frau der Welt gemausert. Bald nach der Aufstellung fanden nämlich die Studenten Gefallen an der Brunnenfigur. Es wurde Brauch, dass jeder Neuimmatrikulierte dem Gänseliesel einen Besuch abstatten und es küssen musste. Das damit verbundene lautstarke Treiben versuchte die Obrigkeit zu unterbinden. Hierzu erließ sie 1926 eine Verordnung, in der das Küssen unter Strafe gestellt wurde. Auch Graf Henckel von Donnersmarck, ein Vorfahre des bekannten Regisseurs und Oscar-Preisträgers, wurde erwischt. Als ambitionierter Jurastudent focht er die Rechtmäßigkeit der Polizeiverordnung an. Das als „Kuss-Prozess“ in die Stadtgeschichte eingegangene Verfahren verlor er allerdings. Das Verbot hatte weiterhin Bestand und ist, entgegen anderslautender Meinungen, sogar bis heute in Kraft.
Mit den Jahren hat sich der Brauch etwas verändert. Heute kommen nicht mehr die Neuimmatrikulierten, sondern die Doktorand*innen um das Gänseliesel zu küssen – Verbot hin oder her. Manche kommen alleine, manchmal sind es 60 und mehr. Und natürlich bringen alle dem Gänseliesel als Dankeschön Blumen mit und schmücken damit den Baldachin.
Längst ist das Küssen des Gänseliesels nicht mehr nur den Männern vorbehalten. Auch Doktorandinnen frönen dem Brauch begeistert und kommen, ebenso wie ihre männlichen Pendants, in geschmückten Bollerwagen oder Treckern zum Brunnen.
Ein echter Hingucker sind die bunt geschmückten Doktorhüte, bei deren Gestaltung der Fantasie freien Lauf gelassen wird und die bei genauem Hinsehen viel über die Träger*innen verraten. Da gibt es Anspielungen auf den Herkunftsort, das Studienfach und natürlich auf die vielfältigen Hobbys der Träger*innen.
Der 100. Geburtstag des Gänseliesels 2001 wurde groß gefeiert. Wahrzeichen und Märchenfiguren aus anderen Städten überbrachten ihre Glückwünsche. Für 100 Minuten war es auch der „normalen“ Bevölkerung ohne Doktortitel gestattet, das Gänseliesel zu küssen. Mitglieder des Rats der Stadt Göttingen bewiesen ihr schauspielerisches Talent und hoben in einer improvisierten Spaß-Ratssitzung das Kussverbot für diese Zeit auf.
Damit alle „Kuss-Interessierten“ das Gänseliesel sicher erreichen konnten, hatte der städtische Bauhof eigens eine Holzkonstruktion angefertigt, die am Brunnen installiert wurde und den Aufstieg erleichterte. Ich weiß noch, dass ich nicht schlecht über die lange Schlange von großen und kleinen Göttinger*innen staunte, die sich am Fuß der Treppe bildete.
Zwar ist die Treppe nach dem Festakt wieder verschwunden, aber trotzdem hat sich die Stadtverwaltung in den letzten Jahren bemüht, die Gefahren, die das Hinaufsteigen zum Gänseliesel mit sich brachten, abzumildern. Passierte es früher zur (Schaden)Freude der Zuschauenden häufiger, dass Doktoranden ins Wasser fielen, weil sie auf dem glitschigen Brunnenrand ausrutschten oder den Abstand bis zum rettenden Sockel falsch eingeschätzt hatten, ermöglicht heute ein Stein im Brunnen das Hinübersteigen trockenen Fußes.
Allerdings, und das wissen nicht viele Besucher*innen, steht längst nicht mehr das Original-Gänseliesel auf dem Sockel. Nach mehrfachen Beschädigungen wurde es 1990 durch eine Kopie ersetzt. Das restaurierte Original befindet sich im Städtischen Museum, von wo es gelegentlich, einen Ausflug unternimmt. Das war zuletzt im vergangenen Jahr der Fall. Gut verpackt in einer großen Holzkiste wurde es ins Deutsche Theater gebracht und war während der Internationalen Händelfestspiele Teil der Bühnendekoration der Oper „Rodrigo“.
Aber nicht nur die Göttinger*innen lieben ihr Gänseliesel. Da es in jedem Reiseführer über Göttingen als Top-Sehenswürdigkeit vertreten ist, ist ein Fotostopp am Brunnen für in- und ausländische Tourist*innen, vor allem für diejenigen aus China und Japan, ein Muss. Und nahezu grenzenlos ist die Freude, wenn sie Augenzeug*innen einer echten Kuss-Zeremonie werden. Besonders großer Bekanntheit erfreut sich das Gänseliesel schon lange in Japan. Bereits 1989 wurde im Freizeitpark “Glückskönigreich” in Obihiro auf der Insel Hokkaido eine Nachbildung des Göttinger Brunnens aufgestellt.
Doch nicht nur für Tourist*innen, sondern auch für Medienvertreter*innen aus dem In- und Ausland ist das Gänseliesel ein wichtiges Motiv in touristischen Beiträgen über Göttingen. Und so geben sich Fernsehsender unter anderem aus Italien, China und Japan auf dem Marktplatz ein Stelldichein.
Auch Blogger*innen schauen vermehrt beim Göttingen Tourismus vorbei und fragen nach dem Gänseliesel. Nicht immer kommt zufällig gerade ein fotogener Doktorand vorbei, um das Gänseliesel zu küssen, wenn Medienvertreter vor Ort sind. Ein Problem, das leicht zu lösen ist: Im Schrank der Tourist-Information liegen Talar und Doktorhut bereit, und meist findet sich auch Mitarbeiter*innen, ide für das gewünschte Foto den Brunnen erklimmen.
Heute gehe ich mehrmals täglich am Gänseliesel vorbei und frage mich manchmal, was es uns wohl aus seinem langen, bewegten Leben erzählen würde, wenn es denn könnte. Vielleicht ein paar Geschichten aus der Zeit, als es noch an anderer Stelle auf dem Marktplatzes stand und der Verkehr noch durch die Weender Straße fuhr.
Oder von den vielen Demonstrationen, zu denen man sich am Brunnen traf, zum Beispiel zur Zeit der Studierenden-Proteste in den späten 60er Jahren und anlässlich der Atomkatastrophe 2011 im japanischen Fukushima.
Oder von den jubelnden Fans zur Zeit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006, als es standhaft auf dem Sockel blieb, die Verzierungen des Baldachins allerdings hier und da Schäden davontrugen. Oder, oder, oder… Schade! Das Gänseliesel könnte so viel berichten, bleibt aber leider eine stumme Zeugin von 120 Jahren Göttinger Stadtgeschichte.
Falls sich der aufmerksame Leser aus dem Süden der Republik bei der Lektüre des Artikels gewundert hat, hier noch ein letzter Hinweis: Es heißt „das Gänseliesel“ und nicht „die“, wie häufig von Touristen aus Bayern angenommen wird. Göttingen liegt zwar in der Mitte Deutschlands, aber wir fühlen uns sprachlich doch eher den Norddeutschen verbunden.”
Redaktion: Florian Heinz
Ruft uns einfach an – unser Telefon-Service ist Montag bis Freitag von 10 bis 16 Uhr unter +49 551 499 80 0 erreichbar oder sendet uns einen Nachricht. Gerne könnt Ihr für weitere Informationen auch unsere Tourist-Information besuchen oder unserem Instagram Kanal @meingoettingen folgen.
Markt 8
37073 Göttingen
T +49 5514 99 80-0
info@tourist-info-goettingen.de
Mo bis Sa: 10 bis 18 Uhr
So (April bis Okt.): 10.30 bis 12.30 Uhr
So (Nov. bis März): geschlossen
Das Team der Göttingen Marketing informiert monatlich zu Veranstaltungen, Konzerten und Events in Göttingen und der Region.
Göttingen Tourismus und Marketing e. V.
Altes Rathaus
Markt 9
37073 Göttingen
T +49 5514 99 80-0
info@goettingen-tourismus.de